Helden des Alltags – Dingwelten im modernen Stillleben
- Dr. Bernd Gülker
- 4. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Was tun die Dinge, wenn wir nicht dabei sind? Wir kommen wieder, und sie haben sich nicht verändert. Aber wissen wir, was sie inzwischen gemacht haben?
– Ernst Bloch
Die Würde der Dinge – Ein Blick auf das moderne Stillleben
Wir leben in einer Welt, die übervoll ist mit Dingen. Gebrauchsgüter, Geräte, Verpackungen, Accessoires – all das formt unser tägliches Umfeld. Manchmal erscheinen sie nebensächlich, manchmal sogar überflüssig, und doch sind sie immer da. Dinge bevölkern unsere Wohnungen, unsere Taschen, unsere digitalen Einkaufswagen. Und während wir sie häufig nur als Werkzeuge betrachten oder als Ballast empfinden, beginnen Künstler – und mit ihnen auch wir als Betrachter – eine neue Perspektive auf diese Alltagswelt einzunehmen: eine heroische.
Zuerst in den 20er Jahren, dann ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckten Künstler den Alltag und erklärten die alltäglichen Dinge des Menschen für bildwürdig. Unterscheidungen zwischen banal und bedeutend hielten sie nicht länger für angemessen. Wer interessiert auf seine unmittelbare Umgebung schaut, findet gerade in den scheinbaren Nichtigkeiten Bedeutungen. Viele Künstler setzen daher auf das Einfache, das Geläufige, scheinbar Bekannte, das aber durchaus als geheimnisvoll und unbekannt daherkommen kann. An diese Tradition möchten wir mit der Ausstellung "Neues Stillleben" vom 11. bis 14. September im Kunst- und Galeriehaus anknüpfen.

Helden des Alltags
Der Begriff „Held“ klingt überhöht, fast pathetisch. Doch was, wenn wir ihn von seiner klassischen Bedeutung lösen und neu denken? Nicht als Krieger oder Retter, sondern als stille Mitstreiter im täglichen Leben: der angekaufte Stuhl, der uns trägt, die Kaffeemaschine, die uns morgens auf Trab bringt, die alte Nähmaschine, die Generationen überdauerte. Diese Dinge haben keine Stimme – und doch erzählen sie Geschichten. Sie sind stumme Zeugen unseres Alltags, verkörpern Erinnerungen, Routinen, vielleicht auch Sehnsüchte.
Die Rückkehr des Stilllebens
Schon im 17. Jahrhundert war das Stillleben eine Möglichkeit, über den Tellerrand des Sichtbaren hinauszuschauen. Obst, Totenschädel, Gläser – sie standen sinnbildlich für Vergänglichkeit, Genuss und Zeit. Heute lebt das Stillleben weiter, allerdings unter anderen Vorzeichen. Statt barocker Prunkstücke sehen wir Tupperdosen, Smartphones, Gummihandschuhe oder Fast-Food-Verpackungen. Sie treten an die Stelle klassischer Symbole und machen unsere heutige Dingwelt sichtbar.

Es ist eine „Heroisierung des Banalen“, wie es der Künstler Peter Nagel formuliert hat. Die Dinge des Alltags, früher als nebensächlich abgetan, erhalten durch ihre Platzierung im künstlerischen Kontext neue Bedeutung. Sie werden ernst genommen – nicht, weil sie schön oder kostbar wären, sondern weil sie unser Leben spiegeln.
Dinge zwischen Funktion und Bedeutung
Konrad Klapheck etwa machte das eindrucksvoll vor: Bei ihm mutierten Bügeleisen, Nähmaschinen oder Schreibmaschinen zu monumentalen Bildobjekten – beinahe fetischartig, als dämonische Persönlichkeiten mit Eigenleben. Diese Verwandlung hebt die Dinge aus dem Schatten ihrer Funktion und zeigt: Sie sind mehr als nur Werkzeuge – sie sind Träger kultureller Identität, Spiegel individueller Biografien.
Und wer genau hinschaut, merkt: Manche Gegenstände tauchen immer wieder auf. Der Stuhl, das Bett, der Hut. Nicht zufällig, wie Lothar Romain feststellt – sie sind symbolträchtig. Der Stuhl steht für Ruhe, Status, manchmal Einsamkeit. Das Bett für Intimität, Krankheit, Geburt. Diese Dinge sind Projektionsflächen unserer Existenz.

Was tun die Dinge, wenn wir nicht da sind?
Die Vorstellung, dass Dinge ein Eigenleben führen, wenn wir sie nicht beobachten, hat etwas Poetisches, fast Mystisches. Vielleicht ist es dieser Gedanke, der das neue Stillleben so reizvoll macht: dass es in der nüchternen Ordnung der Dinge ein verborgenes Drama gibt. Dass unsere Alltagswelt, so übersättigt sie auch scheinen mag, voller Geheimnisse steckt.
Kunst ist ein Mittel, diese verborgene Ebene sichtbar zu machen – sie entbanalisiert die Dinge, indem sie sie isoliert, beleuchtet, überhöht. Auf diese Weise wird das Stillleben zur Bühne, auf der sich die kleinen Helden des Alltags in Szene setzen dürfen.

Das neue Stillleben ist eine Kunstform der Gegenwart, die unserer überkomplexen, materialreichen Welt den Spiegel vorhält – nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit feiner Ironie, Neugier und Respekt vor dem scheinbar Nebensächlichen. Es ist eine Einladung, unsere Umgebung mit neuen Augen zu sehen – und die Helden unseres Alltags endlich zu würdigen.
Vielleicht sollten wir ab und zu innehalten – und dem Toaster, dem Schlüsselbund oder dem leeren Glas ein wenig mehr Beachtung schenken. Denn wer weiß, was sie gemacht haben, während wir nicht hingesehen haben?